„Barrierefreiheit gehört
ins Pflichtenheft”

INTERVIEW Alexandra Resch

Schon seit den Anfängen des iPhones entwickelt Dr. Jan Blüher barrierefreie Apps. Im Interview erklärt er, warum blinde Menschen schon viel länger von aktuellen KI-Fortschritten profitieren und wieso es fürs Programmieren eine eigene Brailleschrift gibt.

Herr Blüher, Sie arbeiten bereits seit vielen Jahren als App-Entwickler. Wie ist es dazu gekommen?

Jan Blüher  Tatsächlich war das iPhone ein entscheidender Grund. Ich hatte nach meinem Informatikstudium promoviert und war auch noch als Postdoc an der Uni Dresden tätig. Gerade als es für mich darum ging zu entscheiden, wie es jetzt weitergehen sollte, erschien ein neues iPhone, das erstmals mit einem Screenreader ausgestattet war. Davor waren Handys mit Touchscreen für blinde Menschen wie mich so gut wie nicht nutzbar. Screenreader gab es schon seit den 80er-Jahren für den PC, aber Apple hat diese Technologie zum ersten Mal so auf einen Touchscreen angepasst, dass man sie gut mit Gesten steuern konnte. Am PC musste man sich immer von links oben bis rechts unten durcharbeiten, aber auf dem Smartphone gab es ganz neue Möglichkeiten, sich zu orientieren und das Auslesen zu steuern – und das ganz bequem unterwegs oder von der Couch aus. Damit hatte das Smartphone auf einmal riesiges Potenzial als Hilfsmittel. Und das wollte ich mitentwickeln.

„Bei Entwickler*innen braucht es in ­puncto Barrierefreiheit meist keine große Überzeugungs­arbeit. Mein Appell geht eher an diejenigen, die für Projektmanagement und Budget zuständig sind.”
Jan Blüher

Woran arbeiten Sie aktuell?

Zum einen entwickeln wir barrierefreie mobile Apps für Dritte, zum Beispiel für Hörbüchereien. Zum anderen bauen wir gerade ein zweites Standbein auf, indem wir für blinde und sehbehinderte Menschen Orientierungssysteme in Gebäuden entwickeln. Denn das ist ein Problem, das an vielen Orten noch nicht gelöst ist. Wenn ich mich im Bürgeramt, in einem Museum oder in einer Schwimmhalle orientieren möchte, ist das oft noch sehr schwierig.

Ist das Bewusstsein für Barrierefreiheit, gerade auch digitale Barrierefreiheit, in den vergangenen Jahren größer geworden?

Definitiv. Ich bin hier in Dresden auch im Blinden- und Sehbehindertenverband tätig und wir bemerken immer wieder, dass sich hier was tut. Früher war so viel Arbeit nötig, um überhaupt Aufmerksamkeit für das Thema zu gewinnen. Heute kommen die Menschen eher auf uns zu. Auch Entwickler*innen scheinen sich mehr mit dem Thema zu beschäftigen. Und ehrlich gesagt: Das ist ja auch kein Hexenwerk. Es gibt viele Guidelines und praktische Anleitungen, in die man sich einlesen kann. Mein Eindruck ist, dass sehende Entwickler*innen sehr offen dafür sind, diese Themen mitzudenken – wenn man sie nur lässt.

Wie meinen Sie das?

Bei Entwickler*innen braucht es meist keine große Überzeugungsarbeit. Mein Appell geht eher an diejenigen, die für das Projektmanagement und das Budget zuständig sind: Barriere­freiheit muss im Pflichtenheft mit drinstehen. Um sie erfolgreich umzusetzen, braucht das Team genügend Zeit und Geld. Wenn in puncto Barrierefreiheit etwas schiefgeht, liegt es meistens daran, dass sie nicht von Anfang an mitgedacht wurde.

Wie steht es um die aktuellen Fortschritte in der KI? Bedeuten diese auch neue Vorteile für sehbehinderte Menschen?

Blinde Menschen profitieren davon schon eine ganze Weile, etwa was die Features angeht, die in aktuellen Smartphones mittlerweile zum Standard gehören. Zum Beispiel die Erkennung von Personen und Motiven auf Fotos: Dadurch kann ich auch die Bildergalerie auf meinem Handy durchsuchen – und sogar noch herausfinden, welches meiner Kinder auf einem bestimmten Bild neben einem Weihnachtsbaum steht. Auch Texterkennung ist sehr viel wert: Ich kann ein Schild fotografieren oder ein Dokument einscannen und mir dann vorlesen lassen, was draufsteht. Mit ChatGPT nimmt das noch mal Fahrt auf.

Inwiefern?

Trotz all der Technik, die man als blinde Person hat, brauchen wir oft immer noch Hilfe von anderen Menschen. Aber die sind natürlich nicht immer zur Hand. Hier könnte ein – noch in Anführungszeichen – „intelligenter“ Assistent für viel Entlastung im Alltag sorgen. Schon jetzt gibt es Apps, die mir auf Basis eines Fotos sagen können, wie oft ich am Knopf der Waschmaschine drehen muss, um das richtige Programm auszuwählen. Das funktioniert natürlich noch nicht perfekt, aber hat viel Potenzial. Sobald so ein Tool auch noch auf Nachfragen reagieren kann, ist das eine große Hilfe.

Nutzen Sie für das Programmieren besondere Tools?

Das reine Programmieren ist meistens nicht das Problem. Die Frage ist eher, welche Entwicklungsumgebung sich gut eignet. Ich entwickle ja viel für iOS und da bietet sich natürlich Xcode von Apple an. Das funktioniert auch relativ gut. Ich konnte von Anfang an die Kernfunktionalitäten bedienen, sodass ich damit sehr selbstständig und einigermaßen effizient arbeiten konnte. Ein anderer Entwickler in meinem Team ist auch blind und hat sich auf Android-Apps spezialisiert. Der macht viel in einem klassischen Text-Editor, weil er damit besser zurechtkommt. Grundsätzlich kann ich aber sagen, dass die großen Tech-Firmen hier schon sehr gut aufgestellt sind.

Und wie sieht es mit Hardware aus?

Im Alltag nutze ich ganz normale Technik: Smartphone, Tablet, Rechner. Das Einzige, was ich noch zusätzlich brauche, ist eine sogenannte Braillezeile, also ein Ausgabegerät in Blindenschrift. Damit kann ich meinen Code nicht nur hören, sondern auch lesen. Gerade bei der Programmierung ist das wichtig, weil es da ja auf jedes Komma ankommt. Für diese Anwendung wurde auch eine eigene Variante der Brailleschrift entwickelt, die sogenannte Computerbraille.

Wie unterscheidet sich diese von der klassischen Brailleschrift?

Die Zeichen bestehen hier nicht aus sechs, sondern aus acht Punkten, um Sonderzeichen besser abzubilden. Das war wichtig, denn in der klassischen Brailleschrift wird für „Klammer auf“ und „Klammer zu“ das gleiche Zeichen genutzt. Das ist beim Coden ja eher hinderlich.

So kurz vorm neuen Jahr: Gibt es ein Herzensprojekt, das Sie in Zukunft gerne noch umsetzen möchten?

Ich hatte zu meinen Anfangszeiten ein Smartphone-Spiel entwickelt: MouseKick. Dabei kommen Mäuse aus dem Käse und man muss sie wieder zurück in die Löcher schicken. Das Besondere daran war, dass man es sowohl blind als auch sehend spielen konnte. Irgendwann ist es leider aus dem App-Store geflogen, weil es den Ansprüchen nicht mehr gerecht wurde. Aber immer noch fragen mich Leute danach – denn gerade für sehbehinderte Menschen ist das Angebot an Spielen sehr gering. Irgendwann möchte ich die Mäuse gerne wieder in den Käse schicken.

Dr. Jan Blüher

ist Informatiker und hat an der TU Dresden promoviert. Ende 2011 gründete er die Softwarefirma visorApps. Neben der Programmierung von Auftragswerken und eigenen Apps entwickelt er mit seinem Team das Indoor-Orientierungs­system blindFind.

Mehr dazu:
visorapps.com

 

 

Fokus auf Teilhabe

In der GI-Fachgruppe Informatik und Inklusion kommen Menschen zusammen, die B­arrierefreiheit im Web, auf Mobi­ltelefonen oder im Desktop realisieren und auch prüfen, um keine Nutzergruppen von der Verwendung der Informationstechnik auszuschließen. Insbesondere in ihren Workshops gehen die Mitglieder der FG zusammen mit Interessierten in die Tiefe. Zuletzt etwa zum Thema Neurodivergenz mit Mitteln der Virtual Reality:
fg-inklusion.gi.de/aktivitaeten/workshops