Gewissensbits

Zwischen Wertschätzung
und Wertschöpfung

FALLBEISPIEL Stefan Ullrich, Reinhard Messerschmidt und Anton Frank

Von der Idee über die Datensammlung bis hin zur Nutzung sind oftmals viele verschiedene Menschen an einem Datenprojekt beteiligt. Dieses Fallbeispiel zeigt auf, welche moralischen Schwierigkeiten sich dabei eröffnen können.

Matilda, Micha und Meryem sind schon seit Schulzeiten befreundet und freuen sich daher sehr, dass sie ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) zu dritt bei einer gemeinwohlorientierten Organisation namens „Code Grün“ leisten können. Die Organisation arbeitet schon lange im „Civic Tech“-Bereich und möchte für ein gefördertes Projekt Daten für Umweltschutz sammeln. „Das ist doch etwas für ‚M hoch drei‘ – für uns!“, meint Matilda, schließlich haben sich die drei schon immer für die Natur interessiert.

Ganz konkret sollen sie in kleinen und mittleren Städten Temperatur und Luftqualität messen. Als sie die zahlreichen Messinstrumente sehen, kommt Meryem eine Idee: „Wir könnten die Sensoren in meinen Rollstuhl einbauen, da können wir auch ein paar Powerbanks einpacken!“ – „Ja, und für uns noch jede Menge Snacks und einen kleinen Kühlschrank“, witzelt Micha. Auch Matilda grinst und schlägt vor, neben den Umweltmessungen auch den Zustand der Barrierefreiheit mit zu erfassen, also die Funktionsweise von Aufzügen und den Zustand der Gehwege und so weiter.

Die ersten Stationen sind sie noch total enthusiastisch unterwegs, es ist spannend, so viele Gegenden im Umland kennenzulernen. Die Messung erfolgt mithilfe eines Sensor-Kits, das Code Grün zusammen mit einer Agentur entwickelt hat. Während ihrer Messfahrten fällt ihnen auf, wie sehr soziale Fragen mit Umweltschutzfragen zusammenhängen. „Durch die Stadtbäume hier ist es knapp vier Grad kühler als auf dem Marktplatz“, bemerkt Matilda, als sie im Hochsommer ihr wohlverdientes Eis unter einem Sonnenschirm genießen. „Na ja, den Leuten im klimatisierten Auto ist das ja egal“, kommentiert Micha. „Die ganzen abgesenkten Bordsteine und barrierefreien Straßen hier“, Meryem zeigt auf die kleinen Straßen und Gassen der Innenstadt, „sind für mich total praktisch, auch die Frau dort mit dem Kinderwagen kommt besser durch. Aber alles in der prallen Sonne, kein Wunder, dass das Baby schreit. Warum sind ausgerechnet hier keine Stadtbäume?“

Am Ende des Jahres wird es aber doch sehr zur Routine, der Spaß des Anfangs ist verflogen und ihnen wird bewusst, warum es eine FÖJ-Aufgabe ist. Um sich wieder zu motivieren, be- schließen die drei, kleine Web-Apps zu schreiben, die auf ihren Daten basieren. Sie stellen sich dilettantisch an, nur Meryem hat bereits etwas Programmiererfahrung, aber es ist toll zu sehen, was man aus ihren Daten alles lesen kann. Auch die ganzen Ausreißer sind sehr amüsant, meistens Messfehler oder falsch angeschlossene Sensoren. Ihr Vorgesetzter bei Code Grün findet das spannend und bringt sie mit den „Devs“ zusammen, wie das Entwicklungsteam hier genannt wird. Mit den bereits vorhandenen Daten macht es sogar noch viel mehr Spaß, sich neue Web-Apps auszudenken.

Die Gewissensbits ...

... sind hypothetische, jedoch realistische Fallbeispiele. Mit ihnen will die Fachgruppe Informatik und Ethik dazu einladen, über moralische und ethische Fragen rund um die Informatik nachzudenken und diese mit Freund*innen, Kolleg*innen oder Studierenden zu diskutieren. Meist gibt es auf diese Fragen keine einfachen Antworten – dazu sind die Fallbeispiele, wie auch die Realität, zu komplex. Im gemeinsamen Diskurs lässt sich aber üben, mögliche Probleme zu erkennen und als Gruppe zu einer Lösung zu gelangen: in einem demokratischen Aushandlungsprozess, wie er auch im Alltag erforderlich ist.

In ihrem letzten Monat sollen die drei eine Präsentation vorbereiten und über ihre Datensammelei anekdotisch erzählen. Die Hauptrednerin des geplanten Events ist allerdings eine Person der Partner-Werbeagentur, die eine neue App vorstellen will. Die App ist toll gemacht, Umweltdaten werden erlebbar gemacht, mithilfe einer „Digitalen Lupe“ können Pflanzen und Insekten bestimmt werden und die „Zukunftslinse“ erlaubt Vorhersagen zur Luftqualität der kommenden Stunden und Tage.

Bei einer Sache werden Matilda, Micha und Meryem allerdings stutzig: Die App liefert auch eine Route für Personen im Rollstuhl mithilfe der Daten, die die drei erfasst haben. Erwähnt wird das allerdings nicht, es wird als „Prototyp basierend auf Daten von Code Grün“ vorgestellt.

Die ganze Idee mit der Barrierefreiheit war doch auf ihrem Mist gewachsen und nun schmückt sich eine Agentur mit fremden Federn! „Na ja“, sagt ihr Vorgesetzter am nächsten Tag, „die Daten sind ja für alle da, da können wir nicht jeden einzelnen Datensammler namentlich erwähnen. Die App ist außerdem auch kostenlos!“ – „Ja, kostenlos, aber nicht Open Source. Und die anderen Apps der Agentur werden teuer an Kommunen verkauft!“, ärgert sich Meryem.

Sie weiß nicht, warum sie die App der Agentur so stört, sie tut doch genau das, was sie soll, und ist sehr praktisch. Dennoch fühlt sie sich irgendwie ausgenutzt, obwohl alle sehr korrekt und offen waren. Sie kommt zur Einsicht, dass „M hoch drei“ ohne die Agentur niemals eine funktionsfähige App auf Tausende von Smartphones gebracht hätte. Vielleicht kann sie ihre Namen wenigstens noch in die Credits bekommen in einem zukünftigen Update.

Als einige Monate später die drei ihr Unbehagen fast schon wieder vergessen haben, stolpert Matilda zufällig über einen Online-Artikel, in dem erwähnt wird, dass der massiv gewachsene Datenpool des inzwischen ausgegründeten Start-ups in eine neuere App mit breiterer Funktionalität münden soll, an der mehrere Bundesländer bereits Interesse signalisiert haben. Eine Erfolgsgeschichte, oder?

FRAGEN

Wie würden Sie urteilen?


Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Wertschöpfung der Daten selten bei den Entwickler*innen und eigentlich nie bei den Datensammler*innen stattfindet. Warum ist das ein ethisches Problem?


Es ist nicht klar, dass die Idee mit der Barrierefreiheit wirklich vom FÖJ-Team stammt, es gibt ja auch andere Datenprojekte. Doch angenommen, es trifft zu: Wäre es angemessen, alle Datensammelnden namentlich zu erwähnen? Sollten sie auch als Ideengeber*innen benannt werden?


Das aus der Agentur ausgegründete Start-up kann mit erheblichen Fördergeldern rechnen. Wie ist es in ethischer Hinsicht zu bewerten, dass der Datenpool von einem FÖJ-Team mit aufgebaut wurde?


Was ändert sich aus ethischer Sicht, wenn Daten als digitale Gemeingüter öffentlich geteilt werden, und wie sollte deren kommerzielle Nutzung geregelt (oder gar ausgeschlossen) werden?


Was für eine öffentlich-digitale Infrastruktur wäre nötig und was brauchen ihre Nutzer*innen, um solche Projekte gemeinwohlorientiert und ethisch reflektiert umsetzen, nachnutzen sowie längerfristig betreiben und weiterentwickeln zu können?


Umweltschutz und soziale Fragen hängen zusammen, aber müssen diese Themen dennoch unterschiedlich in ethischer Hinsicht diskutiert werden?

Was wären Ihre Antworten auf diese Fragen?
Jetzt mitdiskutieren: 
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