FACHARTIKEL

Kinder und Informatik:
Muss das sein?

TEXT Christin Nenner, Martin Fricke und Eve Tessenow

Die Antwort auf diese Frage ist ein klares JA! Denn die heutige und alle kommenden Generationen kommen so früh wie noch nie mit digitalen Technologien in Berührung. Umso wichtiger ist es, dass sie früh ein Verständnis dafür entwickeln. Doch welche informatischen Inhalte haben bereits Einzug in Grundschulen gehalten? Und was ist mit Kindern überhaupt möglich? Unsere Autor*innen haben sich den Status quo angeschaut – und einen Blick in die Zukunft gewagt.

Stellen Sie sich ein Klassenzimmer voller Neunjähriger vor. Gerade hat die Lehrperson eine Frage der Klasse aufgegriffen: Wie funktioniert eigentlich das Internet? Jetzt formulieren die Kinder erste eigene Erklärungsansätze und bringen diese in einen Zusammenhang. Ein Kind verwendet das Wort „Browser“, ein anderes hat schon einmal von einem „Router“ gehört. Die Fachbegriffe schreibt ihre Lehrperson an die Tafel. Mithilfe von Pappaufstellern lernt die Klasse danach weitere Komponenten kennen, die für die Funktionsweise des Internets wichtig sind. Diese verbinden die Schüler*innen mit Wollfäden, um zu sehen, wie sie zusammenhängen.

Im nächsten Schritt spielt die Klasse ein Planspiel mit Aufgaben, für die die Schüler*innen Usernamen und Passwörter eingeben müssen. Dabei erfahren sie, wie wichtig es ist, das eigene Passwort geheim zu halten. Dann weist die Lehrperson den Schüler*innen Rollen verschiedener Netzwerk-Komponenten zu: Wer ist der Router, wer ist der DNS-Server? Mithilfe eines Protokollheftes verfolgt die ganze Klasse den Ablauf einer exemplarischen Kommunikation zwischen den beteiligten Komponenten, vom Client bis zum Webserver, zum Beispiel in Form des Tablets der Lernenden bis zum Streamingportal. So hat die Klasse spielerisch einen zentralen Prozess der Informatik kennengelernt.

Über die Autor*innen


Martin Fricke
ist Fachberater für Bildung in der digitalen Welt in der Schulaufsicht. Er entwickelt unter anderem Konzepte zur Beratung von Grundschulen zur informatischen Bildung und Medienbildung.

Christin Nenner
beschäftigt sich mit der Integration informatischer Bildung in die Grundschule. Ihr Forschungsschwerpunkt ist der Aufbau fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Informatikkompetenzen bei Grundschullehramtsstudierenden.

Eve Tessenow
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie beschäftigt sich im Rahmen ihrer Dissertation mit der Integration von Wünschen und Erwartungen von Lehrpersonen in Fortbildungsangebote der informatischen Bildung. Besonders im Fokus steht dabei der Übergang zwischen Grundschule und Sekundarstufe.

Weitere Materialien wurden von der Arbeitsgruppe Primarinformatik im Rahmen der Fachdidaktischen Gespräche in Königstein (Sächsische Schweiz) der GI zusammengestellt:

https://primarinformatik.gi.de/

Erste informatische Inhalte in den Lehrplänen

Dieser didaktisch entwickelte und erprobte Unterrichtsbaustein des Bildungsangebots „IT2School“ (siehe Grafik oben) ist eines von vielen Beispielen, die zeigen, dass es nicht nur gute Materialien und Ideen, sondern auch viele gute Gründe gibt, bereits in der Grundschule informatische Inhalte zu lehren. Schon Anfang des 19. Jahrhunderts schrieb die Schriftstellerin Letitia Elizabeth Landon: „Technologie ist am meisten spürbar, wenn sie uns zur Unterstützung dient und uns ermächtigt.“ Doch um diese Vision von Technologie nachhaltig zu verankern, brauchen Menschen fundamentale informatische Fertigkeiten. Diese aufzubauen, gelingt am besten, wenn wir möglichst früh damit beginnen. Das ist keine neue Erkenntnis. Bereits 2017 forderte das Committee on European Computing Education (CECE), dass alle Schüler*innen eine kontinuierliche Informatikausbildung erhalten sollten – vorzugsweise schon ab der Grundschule.1 Damals hat das Komitee festgestellt, dass in keinem der Grundschullehrpläne der 16 deutschen Bundesländer Informatikinhalte integriert waren.

Die beiden Wissenschaftlerinnen Christin Nenner und Nadine Bergner stellten in ihrer Studie von 2022 fest, dass die Hälfte der Bundesländer bereits erste informatische Inhalte in ihre Grundschullehrpläne integriert haben. Um einen Überblick über die aktuelle Lage zu erhalten, haben sie die Fächer Mathematik, Deutsch, Sachunterricht sowie technikorientierte Fächer wie Werken, Gestalten und Technik auf informatische Inhalte hin untersucht.2 Der größte Teil der gefundenen Inhalte behandelt Informatiksysteme (wie im oben beschriebenen Beispiel das Internet als Form von vernetzten Informatiksystemen wie Computern zur Datenübertragung) und Algorithmen (etwa das Programmieren einer Sequenz). Auch zu den Auswirkungen der Informatik auf Mensch und Gesellschaft konnten sie Inhalte identifizieren, darunter etwa die Auswirkungen von Automatisierung auf die eigene Lebenswelt. Weiterhin fanden sich einzelne Inhalte wie Codierung und Decodierung in Form der Umwandlung von Zahlen des Dezimalsystems in Zahlen des Binärsystems und umgekehrt.

Wachsende Gelegenheiten für die Einbindung

Fest steht: In die Lehrpläne für Grundschulen wurden informatische Inhalte seit 2017 zunehmend integriert. Eine Übung, wie vorhin beschrieben, ließe sich zum Beispiel gut an eine Einheit rund um Chancen und Risiken der Internetnutzung anhängen. Häufig finden sich in den Lehrplänen Themen der Medienbildung, die nicht als informatisch wahrgenommen werden. Diese lassen sich mit dem genannten Beispiel ebenso behandeln.

Die Kultusministerkonferenz (KMK), die in Deutschland Bildungsstandards herausgibt, sieht es als Aufgabe aller Fächer, Aspekte der digitalen Medienbildung aufzugreifen – auch schon in der Grundschule. Demnach soll Schüler*innen etwa im Fach Deutsch die Möglichkeit geboten werden, sich Texte und andere Medien zu erschließen, digitale Formate wie Chats oder Computerspiele und Umgebungen wie Lernplattformen oder Suchmaschinen zu nutzen. Wichtig ist dabei immer, dass sie sich mit deren Funktionsweise und Nutzung auch kritisch auseinandersetzen. Informatische Bildung ist eine Grundlage, um Geräte begründet auszuwählen, zu bedienen und über die Mediennutzung zu reflektieren.

Indem sie Programmiersprachen wie Scratch im Unterricht nutzen, etwa um Roboter zu steuern, entwickeln die Schüler*innen zudem ein besseres Verständnis von Sprache selbst. Auch ohne das Erlernen einer Programmiersprache können Kinder grundlegende Konzepte der Programmierung kennenlernen. Diese Beispiele zeigen, dass Sprache als Querschnittsthema tolle Gelegenheiten bietet, fächerübergreifend zu unterrichten.

Für das Fach Mathematik hat die KMK informatische Kompetenzen explizit gekennzeichnet. Dabei zeigt sich, dass Anknüpfungspunkte für alle von der GI benannten Inhaltsbereiche bestehen (siehe Kasten). Den Schwerpunkt bieten auch an dieser Stelle Inhalte rund um Algorithmen, wohingegen der Inhaltsbereich „Automaten und Sprachen“ am wenigsten Anknüpfungspunkte aufweist. Je nachdem, wie man die Bildungsstandards interpretiert, bieten sie sehr wohl die Gelegenheit, einfache Auto- matenmodelle im Unterricht zu behandeln. Das kann zum Beispiel erfolgen, indem sich die Kinder mit dem Ticketkauf am Fahrscheinautomaten auseinandersetzen. Im Unterricht kann ein Vergleich zwischen formalen und natürlichen Sprachen stattfinden, bei dem die Schüler*innen herausfinden können, wozu formale Sprachen überhaupt notwendig sind.

Ein Bildungsstandard für das Fach Sachunterricht existiert seitens der KMK derzeit nicht. Die Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts (GDSU), als Verband vergleichbar mit der GI, hat 2021 mit ihrem Positionspapier „Sachunterricht und Digitalisierung“ Empfehlungen zur digitalen Medienbildung und zum Lernen über Medien ausgesprochen.3 Auch diese enthalten Aspekte der informatischen Bildung.

Unterstützung für Lehrpersonen

Neben der KMK auf bildungspolitischer Ebene sehen auch die GI, die GDSU und der Grundschulverband (GSV)4 eine Notwendigkeit, Inhalte der informatischen Bildung bereits in der Grundschule zu behandeln. Die gute Nachricht ist, dass diese bereits explizit und implizit in Lehrplänen für die Grundschule implementiert wurden und auch zukünftig vermehrt Einzug halten werden.5, 6 Die Umsetzung in den Klassen gelingt aber nur, wenn auch die Lehrkräfte entsprechend informatisch und informatik-didaktisch ausgebildet sind und so geeignete Lehr-Lern-Settings planen und durchführen können.

Außerdem braucht es rechtliche Grundlagen sowie die entsprechenden Voraussetzungen im Schulalltag, damit sich Lehrpersonen untereinander austauschen und neues Unterrichtsmaterial entwickeln können. Das bedeutet, dass sie Unterstützung auf vielen verschiedenen Ebenen brauchen: von zeitlichen Ressourcen über die physischen Räume, die ihnen zur Verfügung stehen, bis hin zu fachlicher Begleitung und Vernetzung im Schulalltag im Sinne eines Sparrings. Einige Netzwerkstrukturen sind bereits im Aufbau, müssen jedoch im Sinne der Lehrpersonen weiter gefördert werden.

Damit es tatsächlich gelingt, informatische Bildung in Grundschulen einzuführen, ist eines ganz klar: Alles, was Lehrpersonen dabei im Weg steht, muss immer wieder identifiziert und in die Diskussion eingebracht werden.

In ihren Empfehlungen für informatische Bildung im Primarbereich hat die Fachgruppe fünf Inhaltsbereiche definiert: Information und Daten, Algorithmen, Sprachen und Automaten, Informatiksysteme sowie Informatik, Mensch und Gesellschaft. Die Publikation ist in der digitalen Bibliothek der GI frei verfügbar:

Zur Publikation

 

 

 

 

 

 

Deep dive

Ressourcen für die Praxis:

Das in diesem Artikel genannte Beispiel gibts hier im Detail nachzulesen:
wissensfabrik.de/it2school

Weitere Beispiele, die die Fachgruppe gesammelt hat:
primarinformatik.gi.de/projektsteckbriefe

Weiterführende Literatur:

Informatikkompetenzen für alle Lehrkräfte in der digitalen Blibliothek der GI:
inf.gi.de/informatikkompetenz

1 The Committee on European Computing Education (CECE) (2017), Informatics Education in Europe: Are We All In The Same Boat? DOI: 10.1145/3106077

2 Nenner, Christin und Bergner, Nadine 2022. Informatics Education in German Primary School Curricula. In: Bollin, Andreas; Futschek, Gerald (Hrsg.): Informatics in Schools. A Step Beyond Digital Education. 3–14. DOI: 10.1007/978-3-031-15851-3_1

3https://gdsu.de/sites/default/files/PDF/GDSU_2021_Positionspapier_Sachunterricht_und_Digitalisierung_deutsch_de.pdf

4 Irion, Thomas; Peschel, Markus und Schmeinck, Daniela (Hrsg.) (2023), Grundschule und Digitalität. Grundlagen, Herausforderungen, Praxisbeispiele. In: Grundschulverband, Beiträge zur Reform der Grundschule, 155. Frankfurt a. M. Grundschulverband e. V. https://url.nrw/Irion23

5https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2022/2022_06_23-Bista-Primarbereich-Deutsch.pdf

6https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2022/2022_06_23-Bista-Primarbereich-Mathe.pdf