Spiel mit Ziel

INTERVIEW Alexandra Resch, Erika Heimbuch

Zusammen mit ihrer Co-Gründerin Jennifer Stark haben Michelle Martinussen und Lara Wietschorke direkt nach dem Informatikstudium ein Start-up gegründet, um ihr erstes Serious Game zu veröffentlichen. Im Gespräch mit ihrem ehemaligen Dozenten Dr. Stefan Göbel, Experte für Serious Games an der TU Darmstadt, lassen sie den Weg dahin Revue passieren – und diskutieren über die Herausforderungen, vor denen die Branche steht.

Frau Martinussen, Sie haben Ihr Unternehmen Randalyn Rage direkt nach dem Studium gegründet. Hat Sie die Uni gut auf diesen Schritt vorbereitet?

MICHELLE MARTINUSSEN Es ist sehr schwer, aus einem Studium an einer Universität, das in der Regel sehr theoretisch angelegt ist, das Wissen für die Praxis mitzunehmen – vor allem, weil diese so viele Facetten hat. Sie umfasst ja nicht nur das Programmieren eines Spiels, sondern alles von Konzept bis Marketing. Eigentlich hätten wir auch noch einen BWL-Abschluss gebraucht. Nichtsdestotrotz hat uns die Uni eine gute Grundlage geboten, etwa was den Umgang mit Technologien wie der Game Engine Unity angeht. Und ohne das Studium wären Lara und ich auch nicht Geschäftspartnerinnen. Wir haben uns in einem Praktikum kennengelernt und dort gemerkt, dass wir sehr gut zusammenpassen, was die Arbeitsweisen angeht.

Vor etwa einem Jahr ist Ihr Spiel „beVaiR“ bei Steam erschienen – ein VR-basiertes Serious Game. Wie kommt es bisher an?

MM Es gibt bereits einige positive Rezensionen und auch die Verkaufs- und Nutzungszahlen haben sich gut entwickelt. Besonders genau schauen wir uns natürlich negative Bewertungen an. Auf eine Kritik haben wir innerhalb eines Tages mit einem Update reagiert: Dafür war zwar eine Nachtschicht nötig, aber so konnten wir zeigen, dass wir solches Feedback sehr ernst nehmen.

LARA WIETSCHORKE Das häufigste Problem ist ganz klar, dass Menschen keine langen Texte mehr lesen wollen. Das gilt nicht nur für Serious Games, sondern für alle Spiele – und stellt gerade uns als kleines Studio vor große Herausforderungen. Denn Audio-Ausgabe, idealerweise in möglichst vielen Sprachen, treibt die Kosten immens in die Höhe. Wer stattdessen auf Text setzt, muss dafür ein umso besseres User Interface bieten.

Wie lange haben Sie an dem Spiel gearbeitet?

MM Alles in allem waren es drei Jahre, inklusive Konzeption, Firmengründung und Entwicklung. Dazu kommt aber, dass wir uns aufgrund von Corona konzeptionell noch mal komplett neu orientieren mussten.

Inwiefern?

LW Ich hatte mir ursprünglich in den Kopf gesetzt, ein VR-Workout zu entwickeln. Es sollte Sportmuffel, die aber gerne spielen, dazu animieren, sich mehr zu bewegen. Die Idee habe ich erst mal bei Michelle gepitcht und sie hat sich bereit erklärt, das mit mir durchzuziehen. Unser Plan war es, Bewegungsabläufe von Fitnesstrainerinnen und -trainern aufzuzeichnen und einen Algorithmus zu entwickeln, der die Bewegung korrekt erkennt. Doch das war im Lockdown schwierig, also haben wir noch mal komplett umgedacht. So ist beVaiR entstanden. Es ist immer noch auf VR ausgerichtet, aber nun ein storybasiertes Strategiespiel. An diesem Punkt ist auch unsere dritte Gründerin, Jennifer Stark, eingestiegen, die viel Wissen mitgebracht hat, was Story-Entwicklung angeht.

Neugierig geworden?

Hier erfahren Sie mehr über das Unternehmen und sein erstes Spiel:

randalynrage.com
bevairgame.com

Ein Serious Game unterscheidet sich von klassischen Unterhaltungsspielen in der Regel durch ein sogenanntes characterizing goal. Welches Ziel soll beVaiR erreichen?

MM Die Story enthält Häppchen aus ganz unterschiedlichen Themengebieten wie KI, Ethik, Politik, Drogenkonsum, Rechte von Frauen und Minderheiten, Umgang mit Biologie im Allgemeinen, aber auch Hacking- und Informatikthemen. Wir behandeln zum Beispiel Fragen wie: Was könnten die Folgen sein, wenn wir anfangen, unsere DNA zu manipulieren? Welche Grenzen gibt es beim Einsatz technischer Systeme? Und wie können wir kritisch mit sogenannten alternativen Fakten umgehen? Unser Ziel ist es, den Spielerinnen und Spielern Lust zu machen, sich selbstständig mehr mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Wichtig sind hier vor allem die drei verschiedenen Fraktionen, die man spielen kann. Sie konkurrieren untereinander, haben also auch Meinungen über die jeweils anderen Gruppen und deren Themen. Diese konträren Positionen sollen dazu veranlassen, sich erst mal selbst eine Meinung zu bilden.

LW Mit ihrem Mindset repräsentieren die Fraktionen eine Art Religion. Am Anfang wirkt das ganz harmlos und man denkt sich „Ach cool, die machen viel mit Tech oder sind besonders spirituell“ und je weiter man in der Story vorankommt, desto mehr merkt man, dass die eigentlich alle viel zu extrem sind.

Es gibt also keine klassisch Guten und Bösen?

LW Nein, unser Konzept ist gezielt so angelegt, dass wir die Spielerinnen und Spieler zwingen, einmal alle Fraktionen zu spielen – sonst kommen sie in der Story nicht weiter. Man muss sich in alle Fraktionen hineindenken und sich mit ihnen befassen, um zu verstehen, wie alles zusammenhängt. Das ist ja schon ein Lerneffekt für sich.

Herr Göbel, lassen sich solche Lerneffekte messen?

Stefan Göbel Die Evaluation ist tatsächlich etwas, womit wir uns in der Forschung aktuell befassen: Wie lässt sich feststellen, ob ein Serious Game auch gut ist, also Wirkung zeigt? Dabei wollen wir nicht nur die Lerneffekte messen, sondern auch den Fun-Faktor. Es gibt verschiedene Studien und Tests, die die Qualität eines Spiels untersuchen. Um hier eine Qualitätssicherung zu etablieren, haben wir einen Verein gegründet, der eine Art Gütezeichen vergeben soll. So wollen wir mehr Orientierung schaffen, zum Beispiel für Schulen oder Krankenkassen, die ein gewisses Game in ihr Angebot aufnehmen wollen.

Woran forschen Sie aktuell?

SG Neben der Evaluation beschäftigen wir uns gerade damit, wie sich Serious Games möglichst gut an die Nutzerinnen und Nutzer anpassen lassen. Stichwort: Personalisierung. Das ist gerade bei Spielen wichtig, die in der Bildung eingesetzt werden. Unser Ziel ist es, dass Lernspiele KI-gestützt darauf reagieren können, wie sich eine Nutzerin oder ein Nutzer verhält oder vorankommt. Auch bei Gruppen spielt das eine große Rolle. Man will ja schließlich, dass alle mitkommen. Ein weiteres spannendes Feld ist die automatisierte Erstellung von Umgebungen für solche Spiele.

Was genau untersuchen Sie dabei?

SG Wir wollen Wege finden, um zum Beispiel 3D-Modelle von Städten oder ganzen Landschaften aus Satellitenbildern, Drohnenaufnahmen und weiterem vorhandenen Datenmaterial automatisch zu erstellen. Konkret arbeiten wir an einem virtuellen 3D-Campus der TU Darmstadt, der nicht nur für Marketingzwecke, sondern auch für interaktives Lehren und Lernen genutzt werden kann. Unser Ziel ist es, dass auch Lehrkräfte ohne Programmierkenntnisse darüber interaktive Szenarien erstellen und für ihren Unterricht einsetzen können.

Computerspiele sind längst im Mainstream angekommen, die Nutzung hat sich aber auch stark verändert. Müssen Serious Games heute anders aufbereitet werden?

MM Mein Eindruck ist, dass der Großteil heute anders spielt, als es noch vor ein paar Jahren die Regel war: Statt stundenlang vorm Rechner zu sitzen, spielen heute viele am Handy und unterwegs, zum Beispiel wenn sie an der Bushaltestelle warten. Daran müssen wir uns auch in der Game-Entwicklung anpassen – egal, ob serious oder nicht.

SG Das sehe ich anders. Klar, es gibt diejenigen, die nur noch am Handy zocken. Aber es gibt weiterhin eine große Zahl an Menschen, die sich für Strategiespiele und Adventure Games begeistern können und da auch mal ganze Wochenenden damit verbringen. Fest steht, dass man sich die eigene Zielgruppe gut anschauen muss – und auch den Kontext, in dem ein Spiel gespielt wird. Es macht zum Beispiel einen großen Unterschied, ob ein Lernspiel im Unterricht zum Einsatz kommt oder am Nachmittag mit diversen Unterhaltungstiteln konkurrieren muss.

Wie eng arbeiten Forschung und Unternehmen zusammen, wenn es um Serious Games geht?

MM Gerade bei Serious Games sind Kooperationen mit der Forschung sehr wichtig. Insbesondere in der Entwicklungsphase ist es sinnvoll, an Unis heranzutreten, weil die viel Know-how und ein großes Netzwerk mitbringen. Wir haben in den vergangenen Jahren auch gemerkt, dass die Zusammenarbeit innerhalb der Games-Branche, gerade in Deutschland, sehr eng ist. Es gibt eine starke Community und egal, an welches Studio man sich wendet, man bekommt Hilfe – auch wenn man eigentlich zur Konkurrenz gehört.

SG Dazu muss man sagen, dass es einfach noch kein so großes Netzwerk an Entwicklerinnen und Entwicklern für Serious Games gibt. Aktuell hat sich in Deutschland vielleicht eine Handvoll Studios auf diese Spiele spezialisiert. Aber das anzuschieben ist unser Ziel.

Serious Games

... unterscheiden sich von herkömmlichen Videospielen insofern, dass sie nicht nur zu Unterhaltungszwecken entworfen wurden, sondern den Spieler*innen auch Wissen oder Fähigkeiten vermitteln sollen. Dieses Ziel wird als  characterizing goal  bezeichnet. Wie dieses aussieht, hängt davon ab, für wen das jeweilige Spiel entwickelt wurde. Serious Games werden schon seit Jahren in der Ausbildung von jungen Fachkräften, bei der Reha von Patient*innen oder für kulturelle Weiterbildung, etwa in Museen, eingesetzt. Ein Beispiel dafür ist der Microsoft Flight Simulator, mit dem sich erste Erfahrungen im Steuern eines Flugzeugs machen lassen. Ein anderes Serious Game namens Orwell hat das Ziel, mehr Bewusstsein für Überwachung im Internet zu schaffen.