Mehr als gespiegelt

TEXT Judith Michael

Der Begriff „digitaler Zwilling” geistert gerade wieder durch viele Projektbeschreibungen, Marketingbroschüren und Medienberichte. Was tatsächlich dahintersteckt, erläutert Expertin Judith Michael.

Eine heute gebaute Brücke ist bis zu 50 Jahre im Einsatz, ein Staudamm sogar bis zu 100 Jahre. Es ist den fortgeschrittenen Entwicklungen der Ingenieurwissenschaften zu verdanken, dass wir in unserer Welt eine Vielzahl langlebiger physischer Objekte nutzen können. Diese Objekte müssen in ihrem langen Leben aber auch einigem standhalten. Neben steigendem wirtschaftlichen Druck gilt es, sicherheitstechnische Fragen zu berücksichtigen: Wann muss eine Brücke saniert, ein Damm neu gebaut werden, um noch den sicherheitstechnischen Anforderungen zu entsprechen und keine Gefahr darzustellen? Dies führt dazu, dass vermehrt Softwaresysteme zur Überwachung solcher physischer Objekte genutzt werden. Sie sollen die Objekte über ihre gesamte Lebensspanne hinweg begleiten und die Verbindung zwischen Planung, Modellierung und sensorisch erfassten Daten herstellen. Doch Langlebigkeit bringt für Softwaresysteme einige Herausforderungen mit sich.

In der Forschung arbeiten wir daher an der Entwicklung und kontinuierlichen Weiterentwicklung von digitalen Zwillingen, die solche Systeme begleiten. Um sie zu erstellen und zu betreiben, eignen sich insbesondere modellbasierte Methoden und Codegenerierung1, da sich damit Systeme und Modelle iterativ weiterentwickeln lassen und die Lücke zwischen Planung und Laufzeit geschlossen werden kann.

Schatten ist nicht gleich Zwilling

Ein Konzept, das in diesem Zusammenhang für Verwirrung sorgen kann, ist der digitale Schatten. Das Konzept wurde entwickelt, um die großen Datenmengen des Originalsystems besser nutzen zu können. Digitale Schatten enthalten eine Reihe von kontextbezogenen Datenspuren in aggregierter Form, die zu einem bestimmten Zweck in Bezug auf das Originalsystem gesammelt wurden.2 Bei einem Staudamm wären das zum Beispiel der Wasserdruck oder die Wasserhöhe, die an spezifischen Stellen gemessen werden. Somit sind digitale Schatten keine aktiven Softwarekomponenten, können aber von digitalen Zwillingen oder anderen Softwaresystemen genutzt werden.

Ein digitaler Zwilling3 (abseits des Marketing-Begriffs, der sich oft auf reine Visualisierungen bezieht) besteht aus unterschiedlichen Modellen des Systems, etwa für die Struktur oder die Steuerung eines Staudamms, und einer Reihe von digitalen Schatten, die beide regelmäßig und passend zum jeweiligen Zweck aktualisiert werden. Er enthält mehrere Services, die Modelle und digitale Schatten zweckgebunden nutzen.

Der digitale Zwilling interagiert mit dem Originalsystem, indem er nützliche Informationen über dessen Kontext liefert. So könnte er zum Beispiel vorhersagen, wie viel Niederschlag zu erwarten ist, und direkt die entsprechenden Steuerbefehle übermitteln, also etwa bei viel Regen mehr Wasser abzulassen.
Digitale Zwillinge kommen für verschiedene Zwecke zum Einsatz: von Selbstadaptivität, also eigenständiger Anpassung an veränderte Bedingungen, über Simulation, Optimierung, komplexe Informationsaufbereitung, Instandhaltung bis hin zu Prediction, also Vorhersagen gewisser Ereignisse. Zudem können sie in unterschiedlichen Lebenszyklusphasen des Originalsystems genutzt werden (siehe Kasten). Diese beiden Faktoren haben großen Einfluss auf die Arten der Modelle, die Daten in digitalen Schatten, und auch auf die Services, die den jeweiligen digitalen Zwilling ausmachen.

Kommentar der Autorin

Wie viel Hype muss sein?

„Digitaler Zwilling, das ist ja nur wieder so ein Marketing-Begriff, den sich jemand für etwas ausgedacht hat, das wir eh schon kennen.“ „Schon wieder so ein ­Hype-Begriff, in dem nichts Substanzielles steckt.“ Solche und ähnliche Aussagen hört man immer wieder in der Wissenschaft. Ein Funken Wahrheit ist darin schon verborgen: Die Wissenschaft hat natürlich auch Interesse daran, Themen voranzubringen, die bei der Industrie gut ankommen, die gefördert und auch gut zitiert werden. Pauschale Ignoranz gegenüber solchen Hype-Begriffen hilft uns hier aber wenig. Daher mein Appell: Tragen wir aus der Wissenschaft dazu bei, neue Begriffe besser erfassbar zu machen, zeigen wir auf, was dazu bereits in der Forschung existiert (vielleicht auch unter anderen Begriffen), und finden wir heraus, welche neuen Herausforderungen sich dahinter verbergen!

Nicht nur für technische Systeme können digitale Zwillinge von Interesse sein. Auch für biologische Systeme, zum Beispiel in der Hirnforschung4, für zivile Strukturen wie Straßen und reine Softwaresysteme lassen sie sich einsetzen. Selbst sozio-technische Systeme und Organisationen – also Prozesse oder Arbeitsabläufe in Krankenhäusern, der öffentlichen Verwaltung oder in Fabriken, die von Menschen, Robotern und/oder Computern ausgeführt werden – können durch Zwillinge optimiert werden. Aus Sicht der Informatik können hier viele Fachbereiche bestehendes Wissen einbringen, darunter Prinzipien aus selbst­adaptiven Systemen, grafische Cockpits, 3D-Visualisierungen, Services aus der künstlichen Intelligenz, dem Maschinellen Lernen, der Simulation und dem Data und Process Mining sowie Software-Architekturen und vieles mehr.

Was lange währt ...

Insbesondere die Langlebigkeit der Systeme führt jedoch zu mehreren Herausforderungen bei der Entwicklung eines digitalen Zwillings. Selbst wenn wir die bestehenden ­Informationen und Modelle gut nutzen können, braucht es trotzdem einen Trade-off: Wie genau und detailliert müssen unsere Modelle sein? Und wie schnell müssen sie sich verarbeiten lassen? Über die lange Lebensdauer hinweg können – und sollen – sich Modelle und Software laufend weiterentwickeln. Das erfordert den Einsatz von modellbasierten DevOps-Methoden, wie sie beispielsweise im Projekt MBDO5 geplant sind. Zudem müssen über lange Zeit neue Informationen aus Daten der Realität in Modellen umgewandelt und bei Bedarf bestehende Modelle für nächste Entwicklungszyklen angepasst werden. Langlebige Daten, Modelle und Software müssen ebenso ausführbar, nachvollziehbar und verständlich sein.
Wir erwarten, dass insbesondere die Forschung im Projekt NFDIxCS6 hierzu beitragen wird, die auf eine nationale Infrastruktur für Forschungsdaten aus der Informatik hinarbeitet.

Da für die Entwicklung von digitalen Zwillingen das Wissen unterschiedlicher Disziplinen notwendig ist, sowohl innerhalb der Informatik als auch aus anderen Fachgebieten, ist es wichtig, an neuen Entwicklungsmethoden zu forschen. Neue Techniken und Technologien wie die Einbettung in virtuelle Realitäten, die Verknüpfung mit Augmented Reality oder die Nutzung von Large Language Models bergen viele Potenziale, werden aber auch eine Vielzahl neuer Fragen aufwerfen. Je nach Einsatzgebiet eines digitalen Zwillings ergeben sich darüber hinaus noch viele weitere Fragen – von Datenschutz und Sicherheit bis hin zu Erklärbarkeit für Nutzende, Validierung und Zertifizierung.

Gut in Form gebracht

Nicht nur Bauwerke, sondern auch Maschinen haben heutzutage häufig einen digitalen Zwilling – insbesondere wenn ihre Bedienung offline wie online viele komplexe Prozesse erfordert. Wie digitale Zwillinge in den unterschiedlichen Lebensphasen zum Einsatz kommen können, zeigt das Beispiel einer Spritzgussmaschine, die Kunststoffteile wie etwa Türgriffe herstellt.

1. Design
Der digitale Zwilling enthält eine zusammenhängende Menge an Informationen, die die zu entwickelnde Maschine beschreiben und deren Simulation und Konsistenzprüfung ermöglichen: Welchen Anforderungen muss die Schließeinheit einer Spritzgussanlage standhalten? Welche Rohstoffe können zu Kunststoffteilen verarbeitet werden? In welchem Umfeld soll die Maschine stehen? Und wer bedient sie?
 

2. Konstruktion
Hier ermöglicht ein digitaler Zwilling, die Pläne mit den Daten aus der realen Umsetzung abzugleichen: Funktioniert die Konstruktion so, wie sie ursprünglich vorgesehen war? Gibt es Unterschiede, die sich zum Beispiel aus Materialmangel oder durch Änderungen vor Ort in der Fabrikhalle ergeben haben?

3. Betrieb
In dieser Phase fällt der größte Teil der Daten an: Wie hoch sind Druck und Temperatur in unterschiedlichen Bauteilen? Stimmen diese mit der Planung überein? Wie viele Aufträge können in einer Schicht bearbeitet werden und wie kann man diese optimieren?
 

4. Ende der Lebensdauer
Hier geht es unter anderem um die Weiternutzung: Welche Komponenten könnten noch in anderen Maschinen verbaut werden? Welche Erfahrungen sind wichtig für die Planung neuer Maschinen?

Digitale Zwillinge ermöglichen uns in der Forschung und Praxis, Planung und Realität sowie Modelle und Daten zusammenzuführen. Es gibt noch viele Forschungslücken, etwa zur Integration von unterschiedlichen digitalen Zwillingen, deren Genauigkeit, Skalierung, wie auch Fragestellungen zur Nachhaltigkeit. Trotzdem bieten sie eine gute Möglichkeit, die Forschung aus Teilbereichen der Informatik zusammenzuführen und gemeinsam an komplexen, software-intensiven Projekten zu forschen. Das wird in Zukunft noch viele neue Anwendungsgebiete mit sich bringen. Aber selbst wenn wir in Zukunft digitale Zwillinge der Welt, von Regierungen und deren Entscheidungsprozessen bis hin zu unseren eigenen Autos oder Körpern haben, so können wir uns dennoch sicher sein: Es wird jeweils nur ein Original geben.

Deep Dive

Wer sich näher mit dem Thema digitale Zwillinge ­beschäftigen will, wird bei diesen Linktipps der Autorin fündig:

Die Engineering Digital Twins Community bietet regelmäßige Online-Seminare an: edt.community

Die Liste „Awesome Digital Twins” auf github bietet einen Überblick über aktuelle Forschung, Tools, ­Lehre und Veranstaltungen zu dem Thema:
github.com/edt-community/awesome-digital-twins

Der Lehrstuhl für Software Engineering der RWTH Aachen hat Definitionen im Zusammenhang mit digitalen Zwillingen und aktuelle Beispiele aus der Forschung zu digitalen Zwillingen aufbereitet:
se-rwth.github.io/essay/Digital-Twin-Definition https://se-rwth.github.io/research/Digital-Twins (Englisch)

Die Gesellschaft für Informatik beschäftigt sich mit dem Thema in unterschiedlichen Fachgruppen und übergreifend im Querschnittsfachausschuss Modellierung: qfam.gi.de

Auf internationalen Fachtagungen finden sich ­vermehrt Workshops zu digitalen Zwillingen, z.B. der Workshop on Model-Driven Engineering of Digital Twins: gemoc.org/events/moddit2023.html

Am Dagstuhl-Seminar Model-Driven Engineering of Digital Twins trafen sich internationale ­Expertinnen und Experten:
dagstuhl.de/de/seminars/­seminar-calendar/seminar-details/22362

 

Acknowledgements
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenz­strategie des Bundes und der Länder – EXC 2023 Internet of ­Production – 390621612.  iop.rwth-aachen.de

Über die Autorin

Judith Michael ist Postdoc und Teamleiterin am Lehrstuhl für Software Engineering der RWTH Aachen. Sie forscht mit Bernhard Rumpe und ihren Teamkolleginnen und -kollegen an der modellge­triebenen Entwicklung von digitalen Zwillingen, domänenspezifischen Modellierungssprachen und generativen Methoden, die Software- und Systementwicklungs­prozesse verbessern. Ihre Promotion zur kognitiven Modellierung von Assistenzsystemen hat sie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt bei Heinrich C. Mayr abgeschlossen. 2015 wurde sie zum Junior Fellow der GI ernannt, ist aktuell Mitglied des Präsidiums und in mehreren Fachgruppen sowie im Mentoringprogramm der GI (mehr dazu hier) aktiv.

1 Stahl, Thomas & Völter, Markus (2006), Model-Driven Software ­Development: Technology, Engineering, Management
2 Becker, F., Bibow, P., Dalibor, M., Gannouni, A., Hahn, V., Hopmann, C., Jarke, M., Koren, I., Kröger, M., Lipp, J., Maibaum, J., Michael, J., Rumpe, B., Sapel, P., Schäfer, N., Schmitz, G. J., Schuh, G. & Wortmann, A. (2021), A ­Conceptual Model for Digital Shadows in ­Industry and its ­Application. In: Conceptual Modeling, ER 2021, S. 271–281
3 Heithoff, M., Hellwig, A., Michael, J. & Rumpe, B. (2023), ­Digital Twins for Sustainable Software Systems. In: International Workshop on Green and Sustainable Software (GREENS 2023) co-located with ICSE 2023, IEEE
4 Amunts, K., Axer, M., Bitsch, L., ­Bjaalie, J. G., Brauner, P., Brovelli, A., Calarco, N., Caspers, S., Charvet, C., Cichon, S., Cools, R., Changeux, J.-P., Costantini, I., ­D‘Angelo, E., De Bonis, G., Deco, G., ­DeFelipe, J., Destexhe, A., Dickscheid, T., … & Zaborszky, L. (2023), The coming decade of digital brain research – A vision for neuroscience at the inter­section of technology and computing (Version 4.0), https://doi.org/10.5281/zenodo.7764003
5https://mbdo.github.io
6https://nfdixcs.org