Fachartikel

Von der Wüstenameise zur KI
und wieder zurück

TEXT Benjamin Risse

Ameisen und Algorithmen ­haben mehr Berührungspunkte, als man denkt. Was moderne KI-Verfahren von Wüstenameisen lernen könnten, lässt sich nur durch intensive interdisziplinäre ­Forschung ermitteln. Diese wird für die Informatik und die angrenzenden Naturwissenschaften immer wichtiger. Ein Plädoyer.

Folgt man einer Wüstenameise, auch Cataglyphis genannt, bei ihrer Nahrungssuche in den sandigen Einöden zum Beispiel in Südeuropa, kann man eine erstaunliche Beobachtung machen: Zunächst verlassen die Arbeiterinnen das Nest und suchen in der Umgebung nach einer Futterquelle, wie zum Beispiel einem toten Insekt. Finden sie eine solche Beute, bringen die Ameisen diese zurück ins Nest, um sie dort gemeinsam mit dem Volk zu verspeisen. Der Weg, den die Ameise bei der Suche zurücklegt, kann beliebig chaotisch ausfallen und lässt zunächst kein Muster erkennen. Wenn das Tier jedoch etwas zu fressen findet, passiert das Unglaubliche: Anstatt den gleichen Weg zurück zum Nest zu gehen, wie es Insekten zum Beispiel unter Verwendung von Pheromonspuren tun würden, wählt die Wüstenameise den direkten Weg zurück zum Nest, unabhängig von der vorherigen Route.

Path Integration auf dem Weg zur Futterquelle

Ist sie in der Nähe des Nestes angekommen, verändert sich ihr Verhalten und sie beginnt mittels einer Art Suchmuster den Eingang zur Kolonie zu suchen (siehe Grafik auf S. 28). Hindernisse, die auf der Geraden von der Futterquelle zum Nest liegen, werden geschickt umgangen, sodass der Großteil der zurückgelegten Route tatsächlich einer Geraden gleicht. Nachdem sie das Futter in das Nest gebracht hat, startet die Arbeiterin ihre Futterbeschaffung aufs Neue, dieses Mal jedoch wesentlich direkter auf die vorherige Quelle gerichtet als zuvor. Es scheint gerade so, als würde die Ameise einen internen Vektor besitzen, der in Richtung des Nestes beziehungsweise der Futterquelle zeigt: ein Phänomen, das als Path Integration1 bezeichnet wird.

Dass und wie die Tiere derartige Aufgaben lösen können, ist für die Entwicklung moderner autonomer Roboter von großem Interesse – insbesondere wenn man die eingeschränkte Anzahl an involvierten Nervenzellen und die zur Verfügung stehenden Sensoren von Wüstenameisen berücksichtigt. Da die Wissenschaft dank ausgefeilter verhaltensbiologischer Experimente und modernster neurobiologischer Bildgebung in den vergangenen Jahrzehnten viel über die Funktionsweise von Insektengehirnen gelernt hat, sind wir der Lösung des Rätsels rund um die Orientierung der Ameisen deutlich nähergekommen.

Tieren beim Denken zusehen

Tatsächlich ermöglichen es diese Experimente, Zusammenhänge zwischen neurologischer Aktivität einzelner Nervenzellgruppen und dem Verhalten der Tiere zu erkennen: Wir sehen buchstäblich, wie die Information im Gehirn verarbeitet wird. So wurde beispielsweise ein sogenannter Ring Attractor im Zentralnervensystem (Central Complex) der Tiere entdeckt, der, wie der Name bereits andeutet, in einer ringförmigen Struktur angelegt ist. Die neuronale Aktivität, die sich auf diesem Ring messen lässt, wandert wie die Nadelspitze eines Kompasses, wenn man diesen um die eigene Achse dreht. Vereinfacht gesagt: Die Ameisen besitzen einen inneren Kompass.2

Derartige direkte Zusammenhänge zwischen neurophysiologischen Phänomenen und komplexen Verhaltensmustern lassen sich bei höheren Wirbeltieren und insbesondere beim Menschen kaum oder überhaupt nicht in dieser feingranularen Auflösung untersuchen, sodass Insekten wie Ameisen hier eine einmalige Chance bieten, Tieren beim Denken zuzusehen und von ihren Informationsverarbeitungsstrategien zu lernen.

Vergleicht man die Anzahl der informationsverarbeitenden Einheiten, den Neuronen, von Cataglyphis (schätzungsweise 250.000 Neuronen3) und modernen neuronalen Netzen wie GPT-3 (175 Milliarden Parameter4, also Zahlenwerte, welche während des Trainings der Netze eingestellt werden), wird klar: Die Ameise beziehungsweise die Evolution hat hier weitaus effizientere Lösungen gefunden. In Anlehnung an das Bauhaus-Prinzip könnte man sagen „form ­facilitates function“.

Das Übertragen dieser Erkenntnisse von Wüstenameisen auf moderne KI-Verfahren steckt jedoch noch in den Kinderschuhen und beschränkt sich gegenwärtig auf Teilgebiete der KI wie Spiking Neural Networks, optimierte Trainingsverfahren oder neuromorphische Systeme. Statt biologisch motivierte neuronale Netze zu bauen, beschränkt sich ein Großteil der Informatikforschung in diesem Bereich zunächst noch auf die Modellierung dieser Systeme, um ein besseres Verständnis der Funktionsweise zu erlangen.5 Da jedoch auch die modernen Deep-Learning-Systeme auf abstrahierte Modelle von Neuronen zurückgehen, bleibt anzunehmen, dass ein besseres Verständnis der Informationsverarbeitungsstrategien von biologischen neuronalen Netzen auch weiterhin unsere Forschung im Bereich der KI bereichern dürfte.

Ameisen bieten aber nicht nur Inspiration für neue Verfahren, sondern stellen KI auch vor Probleme. Eines davon betrifft moderne KI-Bildanalysemethoden. Für diese bedeuten Videoaufzeichnungen des oben beschriebenen Verhaltens von Ameisen eine fundamentale Herausforderung, die von der Forschung in diesem Feld bis vor Kurzem kaum beachtet wurde. Um das Verhalten von Cataglyphis und anderen Insekten auch quantitativ mittels des Computers studieren zu können, müssen mithilfe von sogenannten Tracking-Algorithmen die zurückgelegten Wege möglichst automatisch aus eigens dafür angefertigten Videoaufzeichnungen extrahiert werden.

Schwer zu verfolgen, selbst für KI

Da Wüstenameisen aber bekanntlich vergleichsweise klein sind und häufig die Farbe ihrer Umgebung aufweisen, sind moderne Tracking-Verfahren nicht in der Lage, die Position dieser Tiere in den Videos zuverlässig zu ermitteln.7 Dies gilt insbesondere für auf Faltung (Convolutions) basierende neuronale Netze, da diese über das Anwenden von meist kleinen Bildmasken nach distinktiven Farb-, Kontrast- oder Textur-Mustern suchen, die für Ameisen kaum oder nur unzureichend existieren. Um einen möglichst großen Ausschnitt der Umgebung zu erfassen, kann nicht beliebig an die Tiere herangezoomt werden. Damit bleibt jedoch nicht viel Muster für die Faltungen übrig. Die Tiere sind einfach zu klein und bieten nicht genügend optische Merkmale, um von den ineinander verschachtelten Faltungs- und Pooling-Operationen (welche in der Regel zu einer weiteren Reduktion der Bildauflösung führen) moderner tiefer neuronaler Netze erkannt zu werden.

Um die oben beschriebenen Verhaltensstudien quantitativ auszuwerten, braucht es also neue KI-Verfahren, die dazu in der Lage sind, selbst kleinste Objekte zuverlässig in Videoaufzeichnungen zu finden und diese über längere Zeitspannen zu verfolgen. Und genau hier liegt ein weiterer vielleicht ebenso lehrreicher Bezugspunkt zur KI: Es sind häufig genau die He­rausforderungen, die Fragestellungen jenseits der Informatik an Verfahren wie Deep Learning stellen, welche die Schwachstellen der heutigen KI zum Vorschein bringen. Findet man eine Lösung für diese Schwachstelle, lassen sich damit nicht nur Wüstenameisen beobachten. Das Erkennen von sehr kleinen und kontrastarmen Objekten hätte eine Vielzahl von Anwendungen – von der medizinischen Bildgebung über das autonome Fahren bis zur Videoüberwachung. Es lohnt sich daher, derartige Fragestellungen auch aus Sicht der Informatik zu studieren und auf diesem Weg existierende Paradigmen wie die von tiefen neuronalen Netzen auf den Prüfstand zu stellen. So wurden zum Beispiel dank der Ameise etwas in Vergessenheit geratene probabilistische Modelle wiederentdeckt, die ganz ohne Trainingsdaten die Detektion von kleinsten Objekten ermöglichen8,9. Eine Verknüpfung dieser Verfahren mit modernen Deep-Learning-Systemen könnte interessante Fragestellungen für zukünftige KI-Forschungsprojekte in diesem Feld bieten: Wie lassen sich zukünftig zum Beispiel Verfahren entwickeln, die im Gegensatz zu sogenannten überwachten Machine-Learning-Algorithmen mit weniger oder keinen Trainingsdaten auskommen können (sogenannte unüberwachte Verfahren)10?

Informatik im Umbruch zur interdisziplinären Schlüsseltechnologie

Zwischen der Theorie, wie man sie in Informatikveröffentlichungen findet, und der Praxis klafft häufig eine scheinbar unüberwindbare Lücke. Doch es lässt sich beobachten, wie Anwendungen aus den angrenzenden Ingenieurwissenschaften, den Naturwissenschaften und der Medizin die zukünftigen Fragestellungen der Informatik prägen. Ein Indikator für diese Beobachtung zeigt sich im stetig zunehmenden Bedarf an gut ausgebildeten Data Scientists, die genau diese Kompetenz der Anwendung von modernen KI- und Informatikverfahren auf einem bestimmten Gebiet beherrschen müssen. Es ist daher zu vermuten, dass sich die Informatik selbst in einem Umbruch befindet und zukünftig eine noch weitaus stärkere interdisziplinäre Rolle spielen wird.

Über den Autor

Prof. Dr. Benjamin Risse forscht seit mehr als zehn Jahren im Bereich des maschinellen Lernens und der Bildanalyse, schloss im Jahr 2015 seine Promotion in Kooperation mit den Neurowissenschaften ab und forschte im Anschluss am Institute for Action, Perception and Behaviour (Universität Edinburgh) im Bereich der Künstlichen Intelligenz und Robotik. Der Forschungsschwerpunkt liegt auf interdisziplinären Fragestellungen, in welchen sowohl theoretisch-algorithmische Weiterentwicklungen diverser KI-Technologien, als auch konkrete Fragestellungen aus den assoziierten Wissenschaften eine zentrale Rolle spielen. Im Jahr 2022 nahm er eine Professur für „Nachhaltige Entwicklung in der Geoinformatik“ an der Universität Münster an und untersucht in einem durch das Human Frontier Science Program (HFSP) geförderten Projekt gemeinsam mit Kollegen aus der Biologie und Ökologie verschie­dene Aspekte des Insekten­sterbens und den ­damit assoziierten ­Naturereignissen. Er ist bereits seit 2013 Mitglied der Gesellschaft für Informatik.

Auch wenn die Ameise hier nicht den Weg zeigen kann, ist sie dennoch ein schönes Beispiel für die natürliche Verwobenheit der verschiedenen Disziplinen: Eine aus der Biologie und Ökologie stammende Fragestellung führt zu neuen Herausforderungen und Erkenntnissen, die im Kern der KI und der Informatik liegen.

Die historisch gewachsene Trennung der verschiedenen Disziplinen kann dies manchmal verbergen, jedoch sind wir an Universitäten schlussendlich an der Gesamtheit der Dinge und nicht an den isolierten Details interessiert – ganz so wie es der Wortsinn von universitas zum Ausdruck bringt. Wer diese Einsicht hautnah erfahren möchte, möge einfach einmal einer Wüstenameise bei der Futtersuche folgen

Deep Dive

Für alle, die mehr über das Thema erfahren wollen, hat der Autor weitere Literaturempfehlungen zusammengestellt.

1. Von der Wüstenameise zur KI – biologisch inspirierte Informatikforschung

Spiking Neural Networks:

  • Neurobiologie: Ponulak, F., & Kasinski, A. (2011). Introduction to spiking neural networks: Information processing, learning and applications. In: Acta neurobiologiae experimentalis, 71(4), S. 409-433
  • Computer Science: Bouvier, M., Valentian, A., Mesquida, T., Rummens, F., Reyboz, M., Vianello, E., & Beigne, E. (2019). Spiking neural networks hardware implementations and challenges: A survey. In: ACM Journal on Emerging Technologies in Computing Systems (JETC), 15(2), S. 1-35

Neuromorphic Computing and AI: 

  • Davies, M., Wild, A., Orchard, G., Sandamirskaya, Y., Guerra, G. A. F., Joshi, P., ... & Risbud, S. R. (2021). Advancing neuromorphic computing with loihi: A survey of results and outlook. In: Proceedings of the IEEE, 109(5), S. 911-934

Bio-inspired Learning in AI: 

  • Manneschi, L., & Vasilaki, E. (2020). An alternative to backpropagation through time. In: Nature Machine Intelligence, 2(3), 155-156.

 

2. Von der KI zur Wüstenameise – Informatikforschung für biologische Fragestellungen

Neue Algorithmen zur Analyse von Insektenverhalten:

  • Haalck, L., Mangan, M., Wystrach, A., Clement, L., Webb, B., & Risse, B. (2023). CATER: Combined Animal Tracking & Environment Reconstruction. In: Science Advances, 9(16), eadg2094.

KI in den Biowissenschaften (allgemeiner): 

  • Sapoval, N., Aghazadeh, A., Nute, M. G., Antunes, D. A., Balaji, A., Baraniuk, R., ... & Treangen, T. J. (2022). Current progress and open challenges for applying deep learning across the biosciences. In: Nature Communications, 13(1), 1728.

1 Jackson, D. E., & Ratnieks, F. L. (2006), Communication in ants. In: Current biology, 16(15), R570–R574
2 Müller, M., & Wehner, R. (1988), Path integration in desert ants, Cataglyphis fortis. In: Proceedings of the National Academy of Sciences, 85(14), S. 5287–5290
3 Kim, S. S., Rouault, H., Druckmann, S., & Jayaraman, V. (2017), Ring attractor dynamics in the Drosophila central brain. In: Science, 356(6340), S. 849-853
4 Li, Q., Wang, M., Zhang, P., Liu, Y., Guo, Q., Zhu, Y., ... & Liu, W. (2022), A single-cell transcriptomic atlas tracking the neural basis of division of labour in an ant superorganism. In: Nature Ecology & Evolution, 6(8), S. 1191-1204
5 Brown, T., Mann, B., Ryder, N., Subbiah, M., Kaplan, J. D., Dhariwal, P., ... & Amodei, D. (2020), Language models are few-shot learners. In: Advances in neural information processing systems, 33, S. 1877–1901
6 Goulard, R., Buehlmann, C., Niven, J. E., Graham, P., & Webb, B. (2021), A unified mechanism for ­innate and learned visual landmark guidance in the ­insect central complex. In: PLoS computational biology, 17(9), e1009383
7 Haalck, L., Mangan, M., Webb, B., & Risse, B. (2020), Towards image-based animal tracking in natural environments using a freely moving camera. In: Journal of neuroscience methods, 330, 108455
8 Risse, B., Mangan, M., Del Pero, L., & Webb, B. (2017), Visual tracking of small animals in cluttered ­natural environments using a freely moving camera. In: ­Proceedings of the IEEE International Conference on Computer Vision Workshops, S. 2840–2849
9 Haalck, L., Mangan, M., Wystrach, A., Clement, L., Webb, B. & Risse, B. (2023), CATER: Combined ­Animal Tracking and Environmental Reconstruction. ­In: Science Advances (in press)
10 Zaadnoordijk L., Besold T.R. & Cusack R. (2022), ­Lessons from infant learning for unsupervised ­machine learning. In: Nature Machine Intelligence. 2022 Jun;4(6), S. 510–520