Gut versorgt mit Daten

INTERVIEW Alexandra Resch

Seit Anfang des Jahres werden die ersten E-Rezepte verschrieben. Es scheint, als würde die Digitalisierung auch im medizinischen Sektor an Fahrt aufnehmen. Trotzdem gibt es in Forschung und Versorgung noch viele Baustellen. Welche das sind und was es braucht, um sie zu umgehen, diskutieren Jessica Barlinn, Oberärztin an der Dresdner Uniklinik, und Hannes Schlieter, Sprecher der GI-Fachgruppe Digital Health. 

Frau Barlinn, dass Informatik und Medizin näher zusammenrücken müssen, ist für beide Seiten klar. Wo sehen Sie als Medizinerin den ­dringendsten Handlungsbedarf?

Jessica Barlinn  Für mich ist besonders wichtig, dass wir den Zugang zu Daten vereinfachen. Dadurch ließe sich einerseits die medizinische Versorgung verbessern, aber auch alle Abläufe und Prozesse rund um das Thema könnten optimiert werden. Hier kommt aber die viel diskutierte Interoperabilität ins Spiel: Vom Rettungsdienst über die Ambulanz bis zu den Stationen im Krankenhaus gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Systeme, die nicht miteinander kommunizieren. Als Ärztin muss ich mir die Daten oft mühsam zusammensuchen, teils händisch auf Papier notieren. Das kostet viel Zeit und beeinflusst auch die Qualität der Behandlung – aus Sicht der Medizin könnte eine durchgängige Verfügbarkeit der relevanten Daten einen großen Unterschied machen. Und es ist manchmal schwer nachzuvollziehen, warum die technischen und gesetzlichen Voraussetzungen hierfür noch nicht geschaffen wurden.

Herr Schlieter, ist hier der Datenschutz ein Faktor, der das Vorankommen erschwert?

Hannes Schlieter  Im Kontext der Digi­talisierung im Gesundheitswesen wird der Datenschutz immer als Hemm­schwelle angeführt. Aus ­meiner Sicht liegt das aber oft daran, dass über das Thema schlecht aufgeklärt wird und die Menschen nicht gut mitgenommen werden. Ich bin ein Befürworter vom deutschen Datenschutz und würde mir nicht wünschen, dass wir stattdessen auf andere Modelle setzen. Aber: Wir verlieren uns in Deutschland zu oft aufgrund der föderalen Strukturen im Klein-Klein.

Wie meinen Sie das?

HS    Wir entwickeln für jedes Digital­isierungsprojekt ein eigenes Datenschutzkonzept, fangen dabei viele Diskussionen immer wieder bei null an. Ich würde mir bessere Unterstützung in Form klarer Leitlinien wünschen, durch die sich die Entwicklung und Implementierung besser skalieren lassen. Die Medizininformatik-­Initiative hat hier die Voraussetzungen für die datenschutzkonforme Nutzung von Patientendaten für klinische Forschung, in Fachkreisen als „Broad Consent“ bekannt, und die Pseudonymisierung von Daten geschaffen. Ich finde es auch gut und gerechtfertigt, dass sich dafür Zeit genommen wurde, gerade jetzt, wo man sieht, was mit neuen KI-Tools alles möglich ist. Grundsätzlich müssen wir aber schneller und strukturierter werden, dieses Thema standardisierter angehen. Hier braucht es klare Ansagen von oberster Stelle statt vieler kleiner Einzelkämpfe auf Projektebene. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Leute bereit sind, der Nutzung ihrer Daten zuzustimmen, wenn sie ausreichend informiert sind und das Gefühl haben, dass die Umsetzung gesetzlich gut verankert ist.

JB    Das kann ich bestätigen. Ich habe das Gefühl, es gibt häufig neue gesetzliche Bestimmungen und die Prozesse müssen angepasst werden, ohne dass es eine klare Vorgabe, einen nachvollziehbaren Fahrplan gibt. Und ja, Deutschland ist ein großes Land und lässt sich nicht mit Ländern wie Estland vergleichen, in denen schon jetzt alles einheitlich digitalisiert ist. Aber es kann nicht nur an der Bevölkerungszahl liegen, dass hier alles 20 Jahre länger dauert. Hier würde ich mir wünschen, dass wir das Thema mit etwas mehr Wumms angehen.

„Grundsätzlich müssen wir schneller und struktur­ierter werden, das Thema Digital Health standardi­­sierter angehen. Hier braucht es klare Ansagen von ­oberster ­Stelle statt vieler ­kleiner Einzelkämpfe auf Projekt­ebene.”
Hannes Schlieter

Dr. Hannes Schlieter

ist Leiter der Forschungsgruppe Digital Health an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der TU Dresden. Seine Forschungsarbeiten umfassen vor allem Theorien und Gestaltungs­fragen der digitalen Transformation – insbesondere, aber nicht ausschließlich im ­Gesundheitswesen. Er ist Sprecher der GI-Fachgruppe Digital Health.

„Ich finde es wichtig, dass ich als Medizinerin Technologien wie etwa ­KI-basierte Unter­stütz­ungs­­systeme einschätzen kann, und zu einem gewissen Maße auch verstehe, ­worauf ihre Diagnosen basieren.”
Jessica Barlinn

Priv.-Doz. Dr. med. Jessica Barlinn

ist Fachärztin für Neurologie und Referentin Medizinstrategie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist der Aufbau von medizinischen Netzwerkstrukturen, insbesondere im Bereich Schlaganfall, wo sie maßgeblich am Aufbau des telemedizinischen Schlaganfall-Netzwerks SOS-TeleNET beteiligt war. Sie ist Sprecherin der Kommission Telemedizinische Schlaganfallversorgung der Deutschen Schlaganfallgesellschaft.

Herr Schlieter, was steht diesem „Wumms“ im Weg?

HS    Man muss sich vor Augen führen, wie viele Akteure hier mitmischen: ein Bundesforschungsministerium, ein Bundesgesundheitsministerium, 17 Kassenärztliche Vereinigungen in den jeweiligen Bundesländern und in etwa 95 gesetzlichen Krankenkassen sowie natürlich 16 Landesregierungen. Das ist ein hochföderales System, wo auch die Finanzierung von ambulanter, stationärer und rehabilitativer Versorgung und Forschung unterschiedlich geregelt ist. Zum Beispiel ist die Strukturfinanzierung von Krankenhäusern Ländersache. In diesem Kontext bewegt sich Digital­­­­isierung im Allgemeinen und digitale Innovationen im Besonderen – keine einfache Aufgabe. Hinzu kommt für mich aber auch noch der Aspekt, dass es für die zahlreichen Anbieter von Praxisverwaltungs- und klinischen Informationssystemen bisher kaum Malusregelungen gibt, wenn sie bestimmte Standards nicht in ausreichender Qualität und Geschwindigkeit umsetzen. Es gibt viele gute Ansätze, die bereits gesetzlich geregelt sind, aber in der Praxis trotzdem noch nicht greifen. Da müsste meiner Meinung nach der Gesetzgeber viel stärker eingreifen.

Ist das auch der Weg, um Patient*innen gut mitzunehmen?

HS    Tatsächlich ist für mich die echte Teilhabe der Menschen an ihrer „Patient Journey“, also an ihrem Versorgungsprozess, eine große Herausforderung für die kommenden Jahre. Mit elektronischer Patientenakte und E-Rezept haben wir nun endlich die Infrastruktur, auf die wir weitere Innovationen aufsatteln können. Wenn wir hier jetzt schnell aufholen und dann auch noch das Qualitätssiegel deutscher Datenschutz vorzeigen können, sehe ich großes Potenzial, beim Thema Versorgungsforschungsdaten Weltmarktführer zu werden. Wir haben über die Datenintegrationszentren gute Strukturen aufgebaut. Jetzt gilt es, diese zu füttern und die Daten dann wirklich pseudonymisiert und datenschutzgerecht in die Forschung zu bringen. Wenn uns das gelingt, ist das ein immenser Wettbewerbsfaktor.

Müsste die medizinische Ausbildung künftig auch technisches Know-how abdecken?

JB    Gerade beim Gedanken an KI-­basierte Unterstützungssysteme finde ich es wichtig, dass ich als ­Medizinerin diese Technologien einschätzen kann und zu einem gewissen Maße auch verstehe, ­worauf zum Beispiel ihre ­Diagnosen basieren. Bei elektronischen Medikationsplänen etwa ist es zum Teil schon zu gefährlichen Fehlbehandlungen gekommen. Hier muss klar sein, wer das wie überprüfen und im Ernstfall gegensteuern kann. Das sind für mich auf jeden Fall Kompetenzen, die im Studium oder in der Facharztausbildung integriert werden müssen. Und nicht nur dort: Auch Menschen in der Pflege müssen in diesen Kompetenzen geschult werden, was diese Berufe wiederum attraktiver machen kann.

HS    Ich finde, es braucht ein neues Arbeitsprofil: eine Verschmelzung von medizinischem Fachwissen und Digitalisierungswissen, insbesondere im Hinblick auf das Thema Digital Therapeutics. Da ist Deutschland mit der Tür, die zu den digitalen Anwendungen (DiGAs) geöffnet wurde, international Vorreiter. Und ich glaube, diese Anwendungen können ­echten Einfluss auf die Therapie haben, zum Beispiel bei mentalen Erkrankungen, wo man – zum Beispiel in Frühphasen einer Depression – sehr gut unterstützen kann. Gleiches gilt für die Behandlung und Vermeidung anderer Volkserkrankungen. Wenn wir hier die entsprechende Expertise und die benötigten Profile aufbauen, kann auch das zum Wettbewerbsvorteil für Deutschland werden.

Glossar

Interoperabilität
… ist die Fähigkeit des nahtlosen Zusammenspiels zwischen unterschiedlichen Systemen. Inter­operable Systeme sind in der Lage, Daten auf effiziente Weise auszutauschen, sie maschinell zu interpretieren und automatisiert mit anderen Datensätzen zu kombinieren.

Die Medizininformatik-Initiative
… ist ein bundesweites Förder­projekt, in dem Wissenschaftler*innen aus  Medizin, Informatik und weiteren Fachrichtungen der deutschen Universitätskliniken zusammenarbeiten. Ihr Ziel ist es, die ­Patientendaten, die  während eines Klinikaufenthalts entstehen, bundesweit digital zu  vernetzen. So kann mit diesen Daten geforscht werden, um Krankheiten zukünftig schneller und besser ­behandeln zu können.

Datenintegrationszentren
… sind im Rahmen der Medizin­informatik-Initiative an teil­nehmenden Universitäts­kliniken und Partnereinrichtungen ­aufgebaut und untereinander vernetzt worden. In diesen neuen Zentren werden Forschungs- und Ver­sorgungsdaten eines Universitätsklinikums gesammelt, wobei Datenqualität und  Datenschutz eine wesentliche Rolle spielen. Die Zentren sind meist im Klinikum verankert und generell eng mit den klinischen Rechenzentren verbunden, womit eine enge Anbindung an die Systeme der Krankenversorgung gewähr­leistet ist.

Der Fachgruppe Digital Health

soll als Austauschplattform für die Akteure im Themenfeld Digital Health dienen. Interessierten aus Forschung, Praxis und Politik soll damit eine zentrale Anlaufstelle zum Austausch von Forschungsarbeiten und praktischen Themenstellungen geboten werden. Die thematische Bandbreite der Fachgruppe ist ganzheitlich und interdisziplinär ausgelegt und deckt eine große Bandbreite ab: von personalisierter Medizin über Krankenhausinformationssysteme bis hin zu IT in der Sportwissenschaft. Insbesondere sind Themen aus der ökonomischen oder der informatischen Perspektive, aber auch andere Fragestellungen rund um den Einsatz von IT im Gesundheitswesen oder Medizin willkommen. Die Gruppe freut sich über alle, die mitmachen wollen!

fg-digital-health.gi.de